Samstag, November 27, 2010

"Kannibalische Weltordnung" vs. "Aufstand des Gewissens"

Auf SWR2 gab es im Oktober eine Themenschwerpunkt "Essen ist Leben". Dabei wurde ua. ein Interview mit Jean Ziegler ausgestrahlt, das komplett zum downloaden auf der Seite ist (sowohl als pdf, als auch als mp3).
(directlink, Bestimmte Rechte vorbehalten von Filipe Moreira)

Das Interview bringt wirklich trocken auf den Punkt, was wir eigentlich für erkrankte Gesellschaft sind. Aber es strahlt auch Hoffnung aus. Zivilcourage ist gefragt! Ich erlaube mir hier einige Zitate anzuführen, aber hier wirklich die Empfehlung: Das gesamte Interview lesen!
Alle 5 Sekunden verhungert ein Kind unter fünf Jahren, und fast 1 Milliarde Menschen sind permanent unterernährt.
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Man kann auch nicht sagen, eine Demokratie sei ein Garant dafür, dass es keinen Hunger gibt.
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Überall auf der Welt, sei es in Honduras, in Guatemala, in der Mongolei oder in Bangladesch, leidet ein Kind, das an Hunger verstirbt, auf dieselbe Weise. Zuerst werden die Fettreserven aufgebraucht, dann schwindet die Muskelmasse, das Immunsystem wird geschwächt, es folgen schwere Entzündungen in den Atemwegen. Das Kind stirbt unter sehr, sehr großen Schmerzen. Es ist kein Verlöschen, wie ich immer gedacht habe, sondern immer ein fürchterlich schmerzlicher Tod.
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Zum Beispiel in Afrika, wo die Hungerzahlen ganz massiv steigen, von 71 Millionen auf 202 Millionen innerhalb der letzten 28 Jahre, ist ein Hauptproblem die Agrar-Dumping-Politik der Europäischen Union oder der Industriestaatenüberhaupt. Die Industriestaaten haben letztes Jahr ihren Bauern, aus politisch verständlichen Gründen, 349 Milliarden Dollar an Produktions- und Export-Subventionen bezahlt. Das heißt, sie können auf jedem größeren afrikanischen Markt heute deutsches, französisches, portugiesisches Gemüse, Früchte, Geflügel zur Hälfte oder zu einem Drittel des Preises im Vergleich zu afrikanischen Inlandsprodukten verkaufen. Ein paar Kilometer weiter rackert sich der afrikanische Bauer mit seiner Familie 10 Stunden lang pro Tag ab und hat nicht die geringste Chance, auf ein Existenzminimum zu kommen. Von 53 Staaten Afrikas sind 37 praktisch reine Agrarstaaten. Und die abgrundtief verlogene Scheinheiligkeit ist dann, dass die Kommissare in Brüssel, die den Hunger in Afrika mit ihren Dumping-Preisen organisieren, Hunger-Flüchtlinge militärisch verfolgen, wenn die versuchen, von der marokkanischen Küste auf die kanarischen Inseln zu kommen oder von der libyschen Küste nach Lampedusa. Sie werden ins Meer zurückgeworfen, Hunderte von ihnen gehen jeden Monat in den Wellen unter.
 (directlink, Bestimmte Rechte vorbehalten von Filipe Moreira)
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Es gibt ja noch viele weitere Probleme, zum Beispiel das Bioethanol oder den Bio-Diesel. Letztes Jahr haben die Vereinten Staaten von Amerika 138.000.000 Tonnen Mais und Hunderte von Millionen Tonnen Getreide verbrannt, um Bioethanol oder Bio-Diesel herzustellen. Auch wieder aus Gründen, die man auf den ersten Blick verstehen kann: Bekämpfung der Klimaschäden und weg vom ausländischen Erdöl. Aber auf einem Planeten, auf dem alle 5 Sekunden ein Kind verhungert, ist das Verbrennen von Nahrungsmitteln zur Herstellung von Bio-Brennstoff ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
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Trotz des Agrar-Dumpings; letztes Jahr wurden 22.000.000 ha Ackerland in Afrika von Hedgefonds gekauft oder besser gesagt geraubt, um Palmöl- und Zuckerplantagen anzulegen, wo früher Reis gepflanzt worden ist, um Bioethanol herzustellen, weil das heutzutage das große Geschäft ist und auch nach den neuesten EU-Direktive nach Europa kommen soll. Diese strukturellen Gründe: Auslandsschulden, Agrar-Dumping, Börsenspekulationen auf Grundnahrungsmittel sind verantwortlich für das tägliche Massaker des Hungers. Sie müssen verändert werden durch politische Beschlüsse, die wir in demokratischen Ländern erzwingen können. Gleichzeitig muss für die Opfer jegliche Hilfe, humanitärer und technischer Art, geleistet werden.
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Letztes Jahr haben 500 der größten transkontinentalen Privatkonzerne zusammen 53,8 % des Welt- Bruttosozialproduktes kontrolliert. Das sind alle in einem Jahr auf der Welt produzierten Kapitalien einschließlich Dienstleistungen, Waren und Patente. Diese Konzerne verfügen über eine Macht, die kein Kaiser, König oder Papst jemals in der Geschichte zuvor gehabt hat. Und sie sind primär verantwortlich für die total kannibalistische Weltordnung.
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Nehmen wir den G 8-Gipfel in Heiligendamm vor drei Jahren.
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Hinter Mauern, abgeschirmt von 12.000 Polizisten, tagten die Staatschefs der mächtigsten Industriestaaten. Es ging um Patentschutz und Investitionsschutz. Das fiel denen zu Afrika ein, nichts anderes.
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Und auf der anderen Seite des Stacheldrahtes demonstrierten 180.000 Menschen. Pfarrer und Marxisten, Junge und Alte, Männer und Frauen, Arbeiter usw. – quer durch alle Alters- und Sozialklassen, fanden sich die Menschen zusammen, erst in diesen Zeltlagern, dann in der Kathedrale von Rostock zum Abschluss. Das war die Zivilgesellschaft.
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Das war Heiligendamm. Da können Sie doch nicht sagen, das sei Utopie. Massen von Menschen sind aufgewacht, sie gehen nicht zurück in die Indifferenz und in die westliche Schläfrigkeit. Die sind erwacht und sie sind organisiert. Sie sind die neue Macht in unseren Demokratien. Es gibt keine Ohnmacht in einer Demokratie. Deutschland ist wahrscheinlich die lebendigste Demokratie Europas und dritte Wirtschaftsmacht der Welt. Deutschland könnte die Verschuldung der ärmsten Länder morgen früh streichen. Deutschland ist das Land des Grundgesetzes, wo die Grundrechte tatsächlich bestehen. Das sind unsere Waffen, wir müssen sie nur aufheben und gebrauchen. Und dann beginnt der Aufstand des Gewissens und eine neue, solidarische Politik mit den Menschen, die am Hunger zu Grunde gehen.
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Der Westen ruiniert die Autorität der Menschenrechte, weil er selbst seine von ihm in die Welt gesetzten Werte und Rechte jeden Tag durch seine außenpolitische, wirtschaftspolitische Praxis in der Dritten Welt verneint.
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Foto von Heiligendamm 2007
(directlink, some rights reserved  by FOTOTiER)  
Was wir wollen, ist die Befreiung der Freiheit im Menschen. Wir wollen diese absurde kannibalische Weltordnung zerstören, die muss weg. Was die Menschen mit ihrer Freiheit tun, wenn sie einmal befreit sind von der Konzernmacht, von der neoliberalen Wahnidee und vom Rassismus, das ist das Mysterium der Geschichte. Das kann kein Mensch voraussehen. Aber dass sie etwas Richtiges und Gutes tun werden, zeigt schon jetzt die bestehende und wachsende planetarische Zivilgesellschaft. Karl Marx hat gesagt: Der Revolutionär muss imstande sein, das Gras wachsen zu hören. Und das Gras in Europa wächst.
Auf der SWR Seite findet sich auch ein Webspecial über Hunger.

Nur kurz nachgedacht:
Wenn man bedenkt wie lange wir schon kämpfen um den Holocaust seelisch und menschlich zu verdauen, wo insgesamt mind. 6,3 Millionen Menschen gestorben sind (lt. Wiki). Wie lange werden wir verdauen müssen,  dass in unserer Zeit jedes Jahr ca. 8,8 Millionen Menschen verhungern (lt. Wiki Stand 2007)?


(Interview via Corni - DANKE!)

1 Kommentar:

Impi hat gesagt…

Rostock hat keine Kathedrale ;)

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