Mittwoch, April 18, 2012

Das überfällige Denkmodell

Unser Denkmodell ist veraltet
 

Um als Analogie unser Denkmodell mit der Physik zu vergleichen: Wir denken in der klassischen Mechanik, einem Wissen aus dem vorigen Jahrhundert. Dort reicht es völlig aus, etwas mit einem Zustand zu beschreiben, um viele Phänomene hinreichend genau erklären zu können.

Unser alltägliches Denken besteht gleichermaßen darin, alles mit Zuständen abzustempeln. Wir benötigen Kategorien, Gattungen, Familien, Genres, Typen, Klassen, Schubladen. Alles will eingeordnet werden! Ohne definierten Zustand kann ein Ding einfach nicht existieren. Ob rot/schwarz, Professor/Frisöse, subjektiv/ objektiv, gut/böse, inländisch/ausländisch, krank/verrückt, wahr/falsch – alles braucht einen abgegrenzten, vereinheitlichten und festgelegten Zustand.

Und genau dieses Denken blockiert uns, um mit den komplexen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zurecht zu kommen. Unsere starren Denkmuster sind für die globalen Probleme nicht mehr ausreichend. Gesprochen mit der Physik: Wir müssen unser Denkmodell der klassischen Mechanik auf ein grundlegend neues Denkmodel umstellen: Das Denkmodel der Quantenmechanik.




Was heißt das? 

Erstens müssen wir lernen, dass ein Objekt, sei es ein Mensch, ein Ding, ein Prozess, ein Ereignis – nicht nur mit einem Zustand beschrieben werden kann. Es kann unterschiedliche Zustände mit gewissen Wahrscheinlichkeiten haben. Also kein „entweder – oder“, sondern ein „mit gewissen Wahrscheinlichkeiten so oder so oder so“. Zweitens müssen wir erkennen, dass sich ein Objekt sogar in mehreren Zuständen zur gleichen Zeit befinden kann. Also ein „so und so“. Drittens muss uns bewusst werden, dass ein Objekt seine Zustände verändert, sobald man versucht, diese Zustände zu beobachten. 

Mit anderen Worten heißt das, wir müssen uns von absoluten Aussagen, die uns so viel Halt in unserem Leben geben, verabschieden. Sobald etwas oder jemand abgestempelt wird, müssen wir hellhörig werden und uns unsere eigene Vorstellung und Sprache bilden. Wir müssen uns ein neues Bewusstsein schaffen, wenn wir beurteilen. 

Das quantenmechanische Denkmodell ist längst überfällig.


(Essay von Simon Ickinger, erschienen im ausreißer - Die Grazer Wandzeitung, Ausgabe #44 | 01/2012)

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